Pro-Aging-Trance: Krebs ist nicht gut, aber Krebs im Alter schon. Das Altern und den Tod verdrängen.

Die Pro-Aging-Trance: Ursachen und Folgen

Die meisten aus unserer Community haben die Erfahrung schon gemacht: Wenn man mit anderen Menschen zum ersten Mal über unser Thema redet, stößt man häufig auf Desinteresse oder sogar harsche Ablehnung. Oft basiert diese auf Missverständnissen wie dem Tithonus-Fehler (der Annahme, dass Verjüngungstherapien die kranke und gebrechliche Phase des Lebens verlängern anstatt der gesunden)1 oder auf einer Reihe von Einwänden, die sich bei näherer Betrachtung aber gut entkräften lassen: Überbevölkerung, Rente, Ungleichverteilung, Langeweile, unsterbliche Diktatoren und einige weitere.2

Pro-Aging-Trance: Definition

Warum aber tendiert die überwiegende Mehrheit dazu, ihr Schicksal (den Alterungsprozess und altersbedingten Tod) einfach zu akzeptieren, obwohl wir nun vielleicht etwas dagegen machen können? Einiges spricht dafür, dass psychologische Gründe hinter diesem Phänomen stecken. Der weltweit bekannte Alternsforscher Aubrey de Grey hat diesbezüglich den Begriff „Pro-Aging-Trance“ geprägt.

Ihm zufolge beschönigen sich Menschen das Altern, um es so lange wie möglich zu verdrängen, da der Gedanke an den Verfall des eigenen Körpers sonst zu belastend wäre.3 Schließlich sind wir bisher alle in dem Glauben erzogen worden, dass das Altern unvermeidlich ist und ein Beenden des Alterns einem Perpetuum mobile gleichkäme.4 Daher, so de Grey, haben wir gelernt, uns irgendwie mit unserem kurzen und miserablen Leben abzufinden – selbst wenn das ein hohes Maß an Irrationalität erfordert (was sich in Konzepten wie „Altern in Würde“ widerspiegelt). Auffallend sei, dass diese Bewältigungsstrategie oft zu logischen Fehlschlüssen führe, die von den Betroffenen in einem anderen Kontext erfahrungsgemäß nicht zu erwarten seien.5

Der Name entstammt laut de Grey der Ähnlichkeit von Betroffenen mit hypnotisierten Menschen, deren Unterbewusstsein im Trancezustand lieber zu unlogischen Erklärungen greift, als eine tief verwurzelte Überzeugung aufzugeben.6

Folgen der Pro-Aging-Trance

Das aus der Pro-Aging-Trance resultierende Problem ist offensichtlich: Die Entwicklung wirksamer Medizin gegen das Altern wird verzögert, wenn die öffentliche Unterstützung für diese Medizin nicht groß genug ist.7 Geringe Forschungsgelder beziehungsweise die Finanzierung von weniger erfolgversprechenden Forschungsansätzen sind dabei das Kernproblem.8 Beispielsweise werden von den amerikanischen National Institutes of Health Milliarden für die Bekämpfung einzelner Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer ausgegeben, obwohl selbst eine geringe Verzögerung des Alterns (der gemeinsamen Ursache dieser Krankheiten) laut übereinstimmender Meinung zahlreicher Alternsforscher eine viel größere Wirkung hätte als ein Durchbruch im Kampf gegen diese Krankheiten.

De Grey sieht einen wesentlichen Grund dafür in der Rhetorik vieler Gerontologen während der 1950er, -60er und -70er Jahre, die für gewöhnlich in der öffentlichen Kommunikation zwischen altersbedingten Krankheiten und „dem Altern selbst“ eine Trennlinie gezogen hätten, obwohl erstere lediglich Spätstadien des Alterns seien und daher keinesfalls unabhängig vom Alterungsprozess betrachtet werden sollten.9 Außerdem werde eine Welt ohne Altern in der Fiktion überwiegend dystopisch dargestellt, was Menschen in ihrer Abneigung gegenüber dem Ziel bekräftige.10 Dieses Q&A geht deshalb darauf ein, warum die Darstellungen der alterungslosen Welt in den bekanntesten Büchern und Filmen zum Thema („In Time“, „Altered Carbon“, „Elysium“, etc.) nicht realistisch sind.

Analogien

Die beschriebene Einstellung von Menschen zum Altern wird zum Teil mit dem Stockholm-Syndrom verglichen: Genau wie Geiseln nach einer gewissen Zeit mit ihrem Entführer sympathisieren, freunden sich auch Menschen mit dem Gedanken an, dass sie altern und schließlich sterben. Ein Video des bekannten amerikanisch-irischen YouTubers CGP Grey zeigt diesen Zusammenhang sehr anschaulich.11 

Besagter YouTuber hat übrigens auch ein Video über die von Nick Bostrom verfasste Parabel „Das Märchen vom tyrannischen Drachen“ veröffentlicht.12 Die Parabel personifiziert das Altern mit einem Drachen, der tagtäglich unzählige Menschen verschlingt. Die Handlung besteht aus den Aktionen der Einwohner des fiktiven Königreichs, die nach vielen erfolglosen Versuchen, diesen zu töten, davon ausgehen, dass er unbesiegbar ist. Um sich damit abzufinden, reden sich die Bewohner mit der Zeit ein, dass es gut und richtig sei, vom Drachen getötet werden. Letztendlich findet innerhalb der Bevölkerung ein Paradigmenwechsel statt, nachdem ein Kind während einer Volksrede zum Umgang mit dem Drachen sagt, dass der Drache böse sei, da dieser seine Großmutter getötet hat. Das Volk, einschließlich des Königs, schließt sich zusammen, um den Drachentyrannen zu töten.13

Erklärungsansätze für die Pro-Aging-Trance

Ein Erklärungsansatz ist die in den 1980er-Jahren entwickelte Terror-Management-Theorie. Ursprung dieser Theorie ist das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Buch The Denial of Death von dem amerikanischen Sozialanthropologen Ernest Becker aus dem Jahr 1973. Becker argumentiert darin, dass die meisten menschlichen Handlungen dazu dienen, die eigene Sterblichkeit zu leugnen.14 Der Sozialpsychologe Thomas Pyszczynski, der einer der Begründer der Terror-Management-Theorie ist, erklärt den Widerstand gegenüber lebensverlängernden Therapien in genau diesem Kontext: Ihm zufolge ist die Ursache paradoxerweise die, dass die Kritiker Angst vor dem Tod haben und sich in Wirklichkeit nach radikaler Lebensverlängerung sehnen. Da sie diese jedoch in ihrer verbleibenden Lebenszeit nicht für realisierbar oder wahrscheinlich halten, nehmen sie bestimmte kulturelle Weltanschauungen ein und streben danach, entweder eine religiöse beziehungsweise spirituelle oder symbolische Form von Unsterblichkeit zu erlangen. Die tatsächliche Möglichkeit einer deutlichen Lebensverlängerung stellt die damit verbundenen Werte und Überzeugungen infrage. Da diese den Betroffenen als Schutz vor ihrer Todesangst dienen, entsteht das Bedürfnis, sie zu verteidigen und Verjüngungstherapien abzulehnen.15

Auch erlernte Hilflosigkeit könnte laut Vertretern der Anti-Aging-Bewegung eine Rolle spielen. Der Psychologe und Verhaltensforscher Martin Seligman hat 1967 gezeigt, dass Hunde, die milden Elektroschocks ausgesetzt werden und merken, dass sie nichts dagegen unternehmen können, dazu neigen, nach dieser Phase die Schocks auch dann weiterhin über sich ergehen zu lassen, wenn sie die Möglichkeit haben, sie zu vermeiden. Ähnlich sei es bei der Einstellung vieler Menschen zum eigenen Alterungsprozess: Sie hätten gelernt, dass jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, vergebens ist, und würden deshalb neue Möglichkeiten außer Acht lassen.16

Der Paradigmenwechsel: Robust Mouse Rejuvenation

Aubrey de Grey geht davon aus, dass Robust Mouse Rejuvenation (die Verjüngung von Mäusen mittleren Alters, sodass sowohl ihre mittlere als auch ihre maximale Lebensspanne um mindestens 12 Monate verlängert wird) für einen diesbezüglichen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sorgen wird.17 In unserem Beitrag über die von ihm geleitete Robust Mouse Rejuvenation Study 1 gehen wir näher darauf ein. De Grey im Wirtschaftsmagazin „Forbes“: „My view is that that will be sufficient to crack the pro-aging trance: to get the world to give up on the idea that aging is woven into the fabric of the universe, and thence also to give up on the idiotic reasons for thinking of aging as a blessing in disguise.“18

  1. de Grey ADNJ. Combating the Tithonus error: what works? Rejuvenation Res 2008 Aug, 11(4): 713-5. doi: 10.1089/rej.2008.0775. PMID: 18729803. ↩︎
  2. https://verjuengungsforschung.de/sorgen-und-einwaende ↩︎
  3. https://www.cato-unbound.org/2007/12/03/aubrey-de-grey/old-people-are-people-too-why-it-our-duty-fight-aging-death/ ↩︎
  4. https://www.lifespan.io/news/dr-aubrey-de-grey-yuri/ ↩︎
  5. https://www.lifespan.io/topic/the-pro-aging-trance/ ↩︎
  6. de Grey ADNJ. Life Span Extension Research and Public Debate: Societal Considerations. Studies in Ethics, Law, and Technology 2007 Dec 21; 1(1). doi: 10.2202/1941-6008.1011. ↩︎
  7. https://www.focus.de/magazin/archiv/langlebigkeit-das-versprechen-des-ewigen-lebens_id_186063644.html ↩︎
  8. https://www.bbc.com/future/article/20180203-the-ambitious-quest-to-cure-ageing-like-a-disease ↩︎
  9. Aubrey de Grey mit Michael Rae: Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung. Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1336-0. ↩︎
  10. https://www.youtube.com/watch?v=RITCdrOEO9Y ↩︎
  11. https://www.youtube.com/watch?v=C25qzDhGLx8 ↩︎
  12. https://www.youtube.com/watch?v=cZYNADOHhVY ↩︎
  13. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_M%C3%A4rchen_vom_tyrannischen_Drachen ↩︎
  14. https://en.wikipedia.org/wiki/The_Denial_of_Death ↩︎
  15. https://www.youtube.com/watch?v=biNF_a5QbwE ↩︎
  16. https://www.lifespan.io/topic/learned-helplessness-and-the-acceptance-of-aging/ ↩︎
  17. https://www.fightaging.org/archives/2018/02/aubrey-de-grey-on-progress-and-timescales-in-rejuvenation-research/ ↩︎
  18. https://www.forbes.com/sites/alexzhavoronkov/2023/04/20/aubrey-de-grey-turns-60a-25-year-journey-in-biogerontology-and-the-longevity-escape-velocity-foundation/ ↩︎

Wikipedia-Artikel:

https://en.wikipedia.org/wiki/Pro-aging_trance

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_M%C3%A4rchen_vom_tyrannischen_Drachen

https://en.wikipedia.org/wiki/The_Denial_of_Death

https://de.wikipedia.org/wiki/Terror-Management-Theorie

https://de.wikipedia.org/wiki/Erlernte_Hilflosigkeit

Andere Artikel:

Essay von dem Biotech-Unternehmen BioViva, der basierend auf den Arbeiten von Sigmund Freud noch einen anderen Erklärungsansatz für den Widerstand gegenüber Longevity und für (selbst)zerstörerisches Verhalten ins Spiel bringt: https://bioviva-science.medium.com/defeating-the-death-drive-9cc51aceefcf

Videos:

Pro-Aging-Trance erklärt von Aubrey de Grey:

Video von CGP Grey über die derzeit vorherrschende Akzeptanz des altersbedingten Todes:

Seine Animation des „Märchens vom tyrannischen Drachen“:

Sketch, in dem die Pro-Aging-Trance (Neid auf zukünftige Generationen, die von Verjüngungstherapien profitieren) deutlich wird:

Debatte zwischen Sherwin Nuland und Aubrey de Grey in der Dokumentation „How to live forever“ von 2009:

Zitate/Gedichte:

Don’t Lie Down

You say you’re glad one day you’ll die
though not tomorrow or today.
I say that’s just a clever lie
you tell yourself so you can play.

For should you ever come to know
that soon might be your time to go.
You will work hard for a new lease
not just lay down to rest in peace.

And though you think it only fair
you leave your place to someone new
how would you feel to learn they knew
a way to stay, but would not share?

– Sean Hastings (Mai 2002)

„There’s no such thing as ageing gracefully. I don’t meet people who want to get Alzheimer’s disease, or who want to get cancer or arthritis or any of the other things that afflict the elderly. Ageing is bad for you, and we better just actually accept that.“

– Aubrey de Grey

„We can change our lives for the better, and always have. We used to think pain during surgery and dying during childbirth were inevitable. We no longer accept that, and we shouldn’t just accept aging.“

– David Sinclair

„Getting older is a struggle. I always feel that just under the surface of acceptance and enjoyment of the aging process is a terrible hysteria just waiting to burst out.“

– Michael Sheen

„We do need to acknowledge and accept the phenomenon of death, but it’s not necessary to twist logic and emotion and pretend it’s a good thing. People rarely seem to make this argument in the context of war, car accidents, cancer treatment, or even any individual death („I’m so glad she died – it really gave her life meaning“); but lots of people seem to defend death when discussing ageing.“

– Andrew Steele

Memes: